One line

Helena Skljarov: The Blue Giraffe

for five voices, electronics, and video

»The Blue Giraffe«, eine Komposition für 5 Stimmen, Video und Elektronik, beschäftigt sich mit den Spätfolgen des Krieges, nämlich Hass, Diskriminierung und ungesundem Nationalismus.

Ich habe den Text meines Romans verwendet, der in der Komposition als Märchen dargestellt wird, das in einer imaginären dystopischen Stadt spielt. Die Atmosphäre der Angst und des Misstrauens im Stadtleben könnte auf diese Art und Weise in jedem Land während der Vor- und Nachkriegszeit beschrieben werden. Das Video begleitet die Geschichte: Es handelt sich dabei um einen aufgezeichneten Malprozess, den ich auf mehreren Greenscreen-Papieren durchgeführt und das Ergebnis so bearbeitet habe, dass es wie ein konventionell gemalter Cartoon aussieht. Die Elektronik reagiert auf die visuellen Hinweise des Videos, und auch die Sänger müssen oft improvisieren und auf das reagieren, was im Video passiert. Allen Sänger*innen sind je eigene Farben zugeordnet.

 

Obwohl die Geschichte die Anmutung eines Kinderbuchs hat, ist sie viel düsterer, als es den Anschein hat.

Erzählt wird die Geschichte auf zwei verschiedene Arten. Das erste Mal wird sie von einem Tenor, dem Erzähler, vorgestellt, der eine Person darstellt, die ihre Macht nutzt, um die Meinung anderer Menschen zu manipulieren. Diese Figur steht auch für die Unaufrichtigkeit in den Nachkriegsländern, die vorgeben, »modern« und viel weiter entwickelt zu sein, als sie es tatsächlich sind, sowohl in wirtschaftlicher als auch in intellektueller Hinsicht. Während diese Geschichte »erzählt« wird, geschieht sehr viel auf der Bühne im Zusammenspiel von Sänger*innen, Video und Elektronik. All das ist Blendwerk, das ihm dazu dient, die hässliche Wahrheit der Geschichte zu schönen und damit zu verbergen. Die zweite Version der Geschichte wird von einer Mezzosopranistin zum Schluss und ohne Video oder zusätzliche Effekte vorgetragen. Es ist eine einfache Rede, eine einfache Wahrheit, ein sarkastischer Protest, der auf die Täuschung der Menschen hinweist, auf »imaginierte Regeln«, mit denen man in der Gegenwart als »up to date« erscheinen kann.

 

Die Geschichte geht auch verschieden aus, einmal glücklich und einmal traurig. Die Menschen in der Stadt hassen Tiere und Menschen mit blauer Hautfarbe. Eines Tages taucht die blaue Giraffe mitten in der Stadt auf. Die beiden Geschichten verlaufen wie folgt.

 

Tenor:

Ich möchte euch eine imaginäre Geschichte über eine imaginäre Stadt und ihre imaginären Regeln erzählen. Wie viele Märchen hat auch diese Geschichte ein Happy End (…) Das ruhige Stadtleben wurde eines Tages unterbrochendenn es gab einen Verräter in der Stadt! Jemand brachte eine BLAUE Giraffe in ihr Innerstes! Als die ersten Sonnenstrahlen auf die Giraffe fielen, wurde sie auf magische Weise gelb. Wie konnte das passieren? Das fragten sich alle. Weil die Stadt so stark und reinherzig ist, dass ihre Mauern und die Anwesenheit ehrlicher Menschen die Krankheit dieser verdorbenen Kreatur heilten, die nun ihre wahre Farbe zeigte. Die Hässlichkeit der blauen Farbe wurde weggespült, und die Menschen in der Stadt lebten weiter ihr glückliches Leben nach ihren schönen Regeln.

 

Mezzosoprano:

Ich möchte Ihnen eine wahre Geschichte über eine wahre Stadt mit einem wahren Ende erzählen. Sie erschossen die Giraffe und töteten sie. Und kurz nachdem die ersten Sonnenstrahlen auf sie gefallen waren, wurde sie auf magische Weise gelb, das ist wahr. Oder das vielleicht ist es auch nur halb wahr. Die Giraffe war nie blau, es gibt keine blauen Tiere, es gibt keine blauen Menschen, und es gibt keinen blauen Wald. Sie sehen blau aus, weil sie ausschließlich im Schatten leben. Die Giraffe war immer gelb. Das ist es, was du nicht wissen solltest.

(Helena Skljarov)

00:00:00 00:00:00