Jug Marković: NULA
for six voices
(2022)»Nula« (serbisch für Null) ist ein Musikstück, das von den Auswirkungen des Zerfalls Jugoslawiens handelt–einem Land, in dem ich geboren wurde. Es handelt von bestimmten Aspekten des Lebens in Belgrad während des Krieges in Bosnien und Kroatien, von einigen Folgen dieses Krieges und von den 90er Jahren im ehemaligen Jugoslawien.
Der Text setzt sich aus zwei Hauptbestandteilen zusammen. Der erste Teil ist sehr persönlich geprägt und enthält eine Reihe von Objekten, Bildern, Sätzen, Situationen, Gerüchen und Farben, die ich mit dem Aufwachsen im Belgrad dieser Zeit verbinde. Einige Erfahrungen sind meine eigenen, während andere Teil der Straßenkultur sind, die in jenen Jahren entstanden ist.
Das Wort »devize« nimmt im Text eine besondere Stellung ein. Die D-Mark war während der kriegsbedingten Inflation kostbar. Das jugoslawische Geld in D-Mark zu tauschen, war die einzige Möglichkeit, es vor dem stetigen Wertverlust zu retten. Die D-Mark konnte man nur auf der Straße bei den Händlern kaufen, die bei den Einheimischen für ihre Dienste warben, indem sie so schnell das Wort »devize« sagten, so dass man nur ein summendes »z« hören konnte–devize, devize, devize, dvz, dvz, dvz, vzz, vzz, vzz, vzz, vzzz. Der Einkauf bei den Straßenhändlern war ein wöchentliches Ritual, das ich mit meinem Vater zusammen durchführte. Meistens ging es dabei entweder um Deutsche Mark oder um Kraftstoff (Benzin, bleifrei–grün war aus Ungarn und rot aus Rumänien), aber auch um andere Produkte wie Lebensmittel oder Kleidung. Benzin wurde meist in 5-Liter-Kanistern verkauft, die wir dann selbst mit einem Trichter ins Auto füllten. Der Geruch von Benzin war etwas, das ich liebte und dessen ich nie überdrüssig wurde, ein Gefühl, das mich auch heute noch unweigerlich in diese Zeit zurückversetzt. Typisch war auch die Aufschrift »Popis«, die die Ladenbesitzer (die mit der schnellen Preisentwicklung nicht mithalten konnten) an den Eingang ihres Ladens hängten. »Popis« bedeutete, dass der Laden offiziell wegen Inventur geschlossen war, in Wirklichkeit aber offen für Geschäfte war. Wenn ein Kunde hereinkam, konnte der Ladenbesitzer ihm einen beliebigen Preis nennen, ohne dass er den notwendigen Papierkram ausfüllen musste.
Der zweite Teil des gesungenen Textes von »Nula« handelt von der Inflation und verwendet drei Nennwerte von Dinar-Banknoten sowie eine Liste der täglichen Inflationsraten vom Dezember 1993. Zwischen 1992 und 1994 erlebte Jugoslawien die zweitlängste Periode der Hyperinflation in der Weltwirtschaftsgeschichte. Dieser Zeitraum erstreckte sich über 22 Monate, von März 1992 bis Januar 1994. Sie erreichte im Dezember 1993 ihren Höhepunkt. Gemessen am freien Marktwert des Dinar gegenüber der Deutschen Mark betrug die Inflation im Oktober 1993 3.150 Prozent, im November 49.233,33 Prozent und im Dezember 5.000.000 Prozent. In den 116 Tagen zwischen dem 1. Oktober 1993 und dem 24. Januar 1994 erreichte sie eine monatliche Rate von 313 Millionen Prozent. Die kumulierte Inflation betrug fast 500 Billionen (500.000.000.000.000) Prozent. Zusammen mit den Daten aus den acht Monaten vor dem 1. Oktober 1994 erlebte Jugoslawien eine der stärksten Hyperinflationen der Weltgeschichte, die höher war als die der Weimarer Republik. In der Praxis waren die Menschen mehr als arm, der Dinar war wertlos, die Preise für einfache Produkte gingen in die Millionen und Milliarden.
In den letzten Monaten des Jahres 1993 wurden einige der Banknoten mit dem größten Nennwert in Jugoslawien gedruckt. Diese drei Banknoten und ihre unendlichen Mengen an Nullen (Nula) dienten als Text für diesen Beitrag.
Zusätzlich zu den drei Banknoten enthält der gesungene Text eine Liste der täglichen Inflationsrate im Dezember 1993:
Zum Vergleich: Der Preis für ein Ei betrug im Dezember 1993 ca. 700.000.000 Dinar, für Brot 4.000.000.000, für Zeitungen 15.000.000.000 und für eine Zigarette 100.000.000.
*Quelle der Inflationsstatistiken:
Lyon, James (1995). Годишњак за друштвену историју II/1; Yugoslavia’s Hyperinflation 1993–1994.
Das Stück endet mit einem Satz in deutscher Sprache, der beschreibt, wie schnell das Geld an einem Tag innerhalb von Stunden an Wert verlor (die deutsche Sprache wurde wegen der naheliegenden Verbindung zur D-Mark gewählt).
»Morgens hast du zehn, mittags fünf, abends zwei«.
Auf Serbisch: Ujutru imaš deset, u podne pet, popodne dve;
Im Englischen: »In the morning you have ten, at noon five and in the afternoon two.«
Neben zwei Haupttext-Quellen (einem persönlichen und einem statistischen) gibt es in der Mitte des Stücks ein einsätziges Zitat, das das zu keinem der beiden Hauptteile gehört:
»Snage haosa i bezumlja«–Kräfte des Chaos und des Wahnsinns.
So kommentierte Slobodan Milošević, der damalige Präsident Serbiens, eine Reihe von Protesten, die im März 1991 stattfanden. An den so genannten »Märzprotesten« nahmen täglich Zehntausende von Menschen teil, darunter auch meine Eltern und ich als Vierjähriger auf den Schultern meines Vaters. Die Proteste erreichten am 9. März ihren Höhepunkt, als sich mehr als 100.000 Menschen auf dem Belgrader Hauptplatz versammelten–allerdings artete das Ganze schnell in einen Aufstand aus und wurde mit Panzern und Wasserwerfern aufgelöst. Die Märzproteste waren nur einer von zahlreichen gescheiterten Versuchen, sich der kriegstreiberischen Regierung in den darauf folgenden Jahren zu widersetzen.
Ironischerweise war dieser berühmte Satz von Milošević an das Volk gerichtet.
Es ist, als ob er sich selbst und sein verbrecherisches Regime beschreiben würde.
(Jug Marković)