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Vera Burlak: ABC der Ausrufe (Gedichte)

Gefühlswelten
Kastuś, der die Idee für das ABC der Ausrufe hatte, ist in einer besonderen Situation. Er hat Autismus und braucht deshalb einen speziellen Zusatzunterricht, der ihn mit der Welt der Gefühle vertraut macht. Einerseits ist er wahrscheinlich mit der Theorie in diesem Bereich besser vertraut als die meisten anderen, andererseits hat er weniger Möglichkeiten, sein Wissen in die Praxis umzusetzen. Das Projekt ABC der Ausrufe ist für ihn eine Erfahrung von Offenheit, auf Menschen zuzugehen, den ersten Schritt zu wagen und auf eine Antwort zu warten, auf Bekanntschaft, Freundschaft. Die Frage, wie man im Einklang mit seinen Gefühlen lebt, wie man sie erkennt und ausdrückt, scheint jedoch für viele Menschen wichtig zu sein.

 

In den postsowjetischen Ländern, aus denen sowohl Kastuś als auch ich stammen, gibt es immer noch lebendige Erziehungstraditionen, die nicht viel Raum für den Ausdruck und das Verständnis der eigenen Gefühle lassen. Entweder wegen des »Kollektivismus« oder wegen der patriarchalischen Traditionen. Ich erinnere mich, dass wir während meines Studiums in unsere Pädagogik-Notizen schrieben: »Das Ziel des Kurses ist, den Lehrer mit effektiven Lehrmethoden auszurüsten«. Mein Entwurf war kürzer: »Das Ziel des Kurses ist, den Lehrer aufzurüsten«. Punkt. Sie können bei dem Wort »aufrüsten« [im Belarusischen identisch mit »ausrüsten«] aufhören. Es ist, als ob der Lehrer nicht zu den Schülern geht, sondern zum Feind. Und der Lehrer selbst soll den Schüler mit Wissen »bewaffnen«, das für das Leben nützlich ist. Als ob das Leben der Feind wäre. Mit dem Feind kann man keine Gefühle teilen, die Kommunikation mit ihm ist ein Austausch von Schüssen aus »Waffen«.

Viele Lehrer studieren tatsächlich hart und bemühen sich dann sehr, ihre Arbeit gut zu machen. Das ist wahr!!! Ein Lehrer kommt mit Unterrichtsplänen, Methoden und Techniken in die Schule. Und all das muss erfolgreich umgesetzt werden, ganz gleich, auf welches Schülersubstrat der Lehrer trifft. Und dieses Substrat ist furchtbar heterogen, jedes Kind hat seinen eigenen Charakter, seine eigenen Wünsche, seine eigenen Gefühle. Die Kinder müssen all das beiseite schieben, um ein gutes Substrat für die Umsetzung der pädagogischen Pläne im Klassenzimmer zu werden. Und dann in der Familiefür Familienpläne. Und für sich selbst? Vielleicht übertreibe ich, aber dieses Problem gibt es tatsächlich.

Disziplin, schnelle, beeindruckende Ergebnisse kollektiven Handelnsund die Priorität der Individualität, der Selbstentfaltung: Wie kann man ein Gleichgewicht zwischen diesen Polen finden? Und wie kann der Einzelne inmitten all dessen überleben und das Bewusstsein für seinen eigenen Wert bewahren? Ich denke, das ist sehr wichtig.

Wir leben in einer Zeit, in der das menschliche Leben immer weniger wertgeschätzt wird. Tausende von Menschen werden in den Fleischwolf der Kriege geworfen und vernichtet wie Holzfiguren in einer Schießbude. In totalitären Gesellschaften werden die Menschen als Rädchen mit dem niedrigsten Grad an innerer Freiheit betrachtet. Und selbst dort, wo es mehr Freiheit gibt, sind manipulative Technologien (und Manipulationen erfolgen vor allem auf der Basis von Emotionen und Gefühlen) so verbrei- tet wie Mikroplastik. Ich glaube, dass es sinnvoll ist, immer wieder an den Wert des Einzelnen, seiner Gefühle und jedes zerbrechlichen und wunder- baren individuellen Universums erinnert zu werden. Ohne Respekt und Aufmerksamkeit für die Persönlichkeit, ihre Gefühle, ist die Menschheit wirklich in Gefahreinfach zu verschwinden.
(Vera Burlak)