One line

Kastuś Žybul: ABC der Ausrufe

Eine performative Video-Klang-Dichtung

(2024/2025)

»Es ist einfacher, allein zu weinen.«
Ich möchte oft über meine Gefühle sprechen, aber nicht immer. Die Hauptsache ist, dass die Gefühle einfach da sind, und es ist gar nicht nötig, über sie zu sprechen. Für mich ist vor allem wichtig, sie zu haben, mit ihnen zu leben, sie zu fühlen. Und ich möchte über die stärksten und hellsten Gefühle sprechensowohl über positive als auch über negative. Zum Beispiel, wenn sie stören oder, im Gegenteil, wenn sie so gut sind, dass man sie teilen möchte. Wenn man über ein schlechtes Gefühl spricht, wird es vielleicht schwächer. Es gibt aber auch geheime Gefühle, über die man gar nicht reden will. Und es gibt Gefühle, die nicht geheim sind, aber schwer in Worte zu fassen. Ich habe es ein paar Mal geschafft, sie durch Zeichnen auszudrücken.

Es ist nicht unter allen Umständen einfach, Gefühle auszudrücken. Manchmal gibt es Hindernissezum Beispiel, wenn meine Gesprächspartner beschäftigt sind. Es ist leichter, Gefühle auszudrücken, wenn es still ist oder wenn mich niemand sieht. Es ist einfacher, allein zu weinen.

 

Jede meiner Zeichnungen hat ihre eigene Geschichte. Manchmal zeichne ich in einer schlechten Stimmung, manchmal in einer guten. Ich schreibe auch Geschichten und Theaterstücke, in denen ich ebenfalls meine Gefühle, Gedanken und Stimmungen ausdrücke. Es ist wichtig für mich, sie auszudrücken.

(Kastuś Žybul)

 

Gefühlswelten
Kastuś, der die Idee für das ABC der Ausrufe hatte, ist in einer besonderen Situation. Er hat Autismus und braucht deshalb einen speziellen Zusatzunterricht, der ihn mit der Welt der Gefühle vertraut macht. Einerseits ist er wahrscheinlich mit der Theorie in diesem Bereich besser vertraut als die meisten anderen, andererseits hat er weniger Möglichkeiten, sein Wissen in die Praxis umzusetzen. Das Projekt ABC der Ausrufe ist für ihn eine Erfahrung von Offenheit, auf Menschen zuzugehen, den ersten Schritt zu wagen und auf eine Antwort zu warten, auf Bekanntschaft, Freundschaft. Die Frage, wie man im Einklang mit seinen Gefühlen lebt, wie man sie erkennt und ausdrückt, scheint jedoch für viele Menschen wichtig zu sein.

 

In den postsowjetischen Ländern, aus denen sowohl Kastuś als auch ich stammen, gibt es immer noch lebendige Erziehungstraditionen, die nicht viel Raum für den Ausdruck und das Verständnis der eigenen Gefühle lassen. Entweder wegen des »Kollektivismus« oder wegen der patriarchalischen Traditionen. Ich erinnere mich, dass wir während meines Studiums in unsere Pädagogik-Notizen schrieben: »Das Ziel des Kurses ist, den Lehrer mit effektiven Lehrmethoden auszurüsten«. Mein Entwurf war kürzer: »Das Ziel des Kurses ist, den Lehrer aufzurüsten«. Punkt. Sie können bei dem Wort »aufrüsten« [im Belarusischen identisch mit »ausrüsten«] aufhören. Es ist, als ob der Lehrer nicht zu den Schülern geht, sondern zum Feind. Und der Lehrer selbst soll den Schüler mit Wissen »bewaffnen«, das für das Leben nützlich ist. Als ob das Leben der Feind wäre. Mit dem Feind kann man keine Gefühle teilen, die Kommunikation mit ihm ist ein Austausch von Schüssen aus »Waffen«.

 

Viele Lehrer studieren tatsächlich hart und bemühen sich dann sehr, ihre Arbeit gut zu machen. Das ist wahr!!! Ein Lehrer kommt mit Unterrichtsplänen, Methoden und Techniken in die Schule. Und all das muss erfolgreich umgesetzt werden, ganz gleich, auf welches Schülersubstrat der Lehrer trifft. Und dieses Substrat ist furchtbar heterogen, jedes Kind hat seinen eigenen Charakter, seine eigenen Wünsche, seine eigenen Gefühle. Die Kinder müssen all das beiseite schieben, um ein gutes Substrat für die Umsetzung der pädagogischen Pläne im Klassenzimmer zu werden. Und dann in der Familiefür Familienpläne. Und für sich selbst? Vielleicht übertreibe ich, aber dieses Problem gibt es tatsächlich.

 

Disziplin, schnelle, beeindruckende Ergebnisse kollektiven Handelnsund die Priorität der Individualität, der Selbstentfaltung: Wie kann man ein Gleichgewicht zwischen diesen Polen finden? Und wie kann der Einzelne inmitten all dessen überleben und das Bewusstsein für seinen eigenen Wert bewahren? Ich denke, das ist sehr wichtig.

 

Wir leben in einer Zeit, in der das menschliche Leben immer weniger wertgeschätzt wird. Tausende von Menschen werden in den Fleischwolf der Kriege geworfen und vernichtet wie Holzfiguren in einer Schießbude. In totalitären Gesellschaften werden die Menschen als Rädchen mit dem niedrigsten Grad an innerer Freiheit betrachtet. Und selbst dort, wo es mehr Freiheit gibt, sind manipulative Technologien (und Manipulationen erfolgen vor allem auf der Basis von Emotionen und Gefühlen) so verbrei- tet wie Mikroplastik. Ich glaube, dass es sinnvoll ist, immer wieder an den Wert des Einzelnen, seiner Gefühle und jedes zerbrechlichen und wunder- baren individuellen Universums erinnert zu werden. Ohne Respekt und Gefühlswelten Kastuś, der die Idee für das ABC der Ausrufe hatte, ist in einer besonderen Situation. Er hat Autismus und braucht deshalb einen speziellen Zusatz- unterricht, der ihn mit der Welt der Gefühle vertraut macht. Einerseits ist er wahrscheinlich mit der Theorie in diesem Bereich besser vertraut als die meisten anderen, andererseits hat er weniger Möglichkeiten, sein Wissen in die Praxis umzusetzen. Das Projekt ABC der Ausrufe ist für ihn eine Erfahrung von Offenheit, auf Menschen zuzugehen, den ersten Schritt zu wagen und auf eine Antwort zu warten, auf Bekanntschaft, Freundschaft. Die Frage, wie man im Einklang mit seinen Gefühlen lebt, wie man sie erkennt und ausdrückt, scheint jedoch für viele Menschen wichtig zu sein.

 

In den postsowjetischen Ländern, aus denen sowohl Kastuś als auch ich stammen, gibt es immer noch lebendige Erziehungstraditionen, die nicht viel Raum für den Ausdruck und das Verständnis der eigenen Gefühle lassen. Entweder wegen des »Kollektivismus« oder wegen der patriarchalischen Traditionen. Ich erinnere mich, dass wir während meines Studiums in unsere Pädagogik-Notizen schrieben: »Das Ziel des Kurses ist, den Lehrer mit effektiven Lehrmethoden auszurüsten«. Mein Entwurf war kürzer: »Das Ziel des Kurses ist, den Lehrer aufzurüsten«. Punkt. Sie können bei dem Wort »aufrüsten« [im Belarusischen identisch mit »ausrüsten«] aufhören. Es ist, als ob der Lehrer nicht zu den Schülern geht, sondern zum Feind. Und der Lehrer selbst soll den Schüler mit Wissen »bewaffnen«, das für das Leben nützlich ist. Als ob das Leben der Feind wäre. Mit dem Feind kann man keine Gefühle teilen, die Kommunikation mit ihm ist ein Austausch von Schüssen aus »Waffen«.

 

Viele Lehrer studieren tatsächlich hart und bemühen sich dann sehr, ihre Arbeit gut zu machen. Das ist wahr!!! Ein Lehrer kommt mit Unterrichtsplänen, Methoden und Techniken in die Schule. Und all das muss erfolgreich umgesetzt werden, ganz gleich, auf welches Schülersubstrat der Lehrer trifft. Und dieses Substrat ist furchtbar heterogen, jedes Kind hat seinen eigenen Charakter, seine eigenen Wünsche, seine eigenen Gefühle. Die Kinder müssen all das beiseite schieben, um ein gutes Substrat für die Umsetzung der pädagogischen Pläne im Klassenzimmer zu werden. Und dann in der Familiefür Familienpläne. Und für sich selbst? Vielleicht übertreibe ich, aber dieses Problem gibt es tatsächlich.

 

Disziplin, schnelle, beeindruckende Ergebnisse kollektiven Handelnsund die Priorität der Individualität, der Selbstentfaltung: Wie kann man ein Gleichgewicht zwischen diesen Polen finden? Und wie kann der Einzelne inmitten all dessen überleben und das Bewusstsein für seinen eigenen Wert bewahren? Ich denke, das ist sehr wichtig.

 

Wir leben in einer Zeit, in der das menschliche Leben immer weniger wertgeschätzt wird. Tausende von Menschen werden in den Fleischwolf der Kriege geworfen und vernichtet wie Holzfiguren in einer Schießbude. In totalitären Gesellschaften werden die Menschen als Rädchen mit dem niedrigsten Grad an innerer Freiheit betrachtet. Und selbst dort, wo es mehr Freiheit gibt, sind manipulative Technologien (und Manipulationen erfolgen vor allem auf der Basis von Emotionen und Gefühlen) so verbreitet wie Mikroplastik. Ich glaube, dass es sinnvoll ist, immer wieder an den Wert des Einzelnen, seiner Gefühle und jedes zerbrechlichen und wunderbaren individuellen Universums erinnert zu werden. Ohne Respekt und Aufmerksamkeit für die Persönlichkeit, ihre Gefühle, ist die Menschheit wirklich in Gefahreinfach zu verschwinden.

(Vera Burlak)

 

 

Hier und Jetzt
Als ich die Zeichnungen von Kastuś zum ersten Mal sah, überkam mich eine Flut von Gefühlen und Emotionen. Die knalligen Farben, die Geschichten, die sich vor meinen Augen entfalteten, sowie die Mehrdeutigkeit, die grundlegende Tiefe und die spielerische Art der Bilder haben mich sofort tief inspiriert. Klangfarben und Ideen nahmen intuitiv Raum in meinem Kopf ein und entwickelten sich zu einem musikalischen Konzept.

 

In dieser Veranstaltung wird nicht nur eine klangliche Erzählung der verschiedenen Bilder erlebbar. Die 8-Kanal-Installation schafft zudem ein individuelles Hörerlebnis, das jede*r Besucher*in auf eigene Weise wahrnehmen kann. Die elektroakustische Komposition setzt sich mit grundlegenden Fragen des Individuums auseinander: Wie unterschiedlich nimmt jede*r von uns die Welt wahr? Wie positionieren wir uns in Bezug auf uns selbst und auf die Gesellschaft? Weiterhin: Wenn wir über Gesellschaft sprechen, von welcher Gesellschaft sprechen wir? Wie viel Raum nehmen Angst und Unsicherheit in unserem Leben ein und wie gehen wir damit umbekämpfen wir sie, akzeptieren wir sie oder lernen wir, mit ihnen weiterzuleben?

 

Themen wie Identität, Befreiung und Genuss spielen ebenfalls eine wichtige Rolle in unserem Verhalten und unserer Wahrnehmung. Wie klingt es, unangenehm zu sein? Wo fühlen wir es in unserem Körper? Wie klingen »böse« Eiscremes und kann ich meine Ängste überwinden, wenn ich meine Sorgen als »Pacman-Monster« verkleide? Wie viel Platz lassen wir uns für die Liebe in unserem Leben? Vielleicht nicht genug.

Sollten wir unsere Zeit auf dieser Erde ernster nehmen, oder sie manchmal einfach wie ein Videospiel spielerisch genießen und uns von der Umgebung inspirieren lassen? Es gibt keine klare Antwort, oder besser gesagt, es gibt nicht nur eine Antwort. Komm herein und genieße die Farben, die subtilen Bewegungen im Video und Klang und die mal witzigen, mal skurrilen und chaotischen, mal ernsten und mal gefühlsmanipulierenden Klänge. Mal verstörend, mal verspielt, mal ein bisschen sarkastisch und ironisch. Komm herein, denke ein bisschen nach, wenn Du möchtest, oder auch nicht. Genieße das Hier und Jetzt mit einer gewissen Achtsamkeit und Neugier für die Zeit, die Du dieser Veranstaltung gewidmet hast.

(Georgia Koumará)

 

 

Fantasie und Geheimnis
Es ist wunderbar zu sehen, was Zeichnung als Ausdruck von Gefühlen vermag. Kastuś’ Fantasien sind vielschichtig: bunt, lebendig, detailliert, überraschend. Mit überbordender Fantasie, Feinheiten und Geheimnissen lässt er sich von den Klängen der belarusischen Sprache inspirieren. Wir sehen Monster, Maschinen, Figuren, allerlei Getier und absurde Situationen vieler Art. Tragik und Glück liegen nah beieinander. Die Bilder sind voll von Gesten der Befreiung, aber erzählen auch von Zwängen und Verstrickungen.

 

Mit Kastuś’ Zeichnungen zu arbeiten, inspiriert mich zu mal stillen und mal wagemutigen Schritten, diese in Bewegung zu setzen. Gilt es ja, die unmittelbare Kraft der bildnerischen Ideen zu zeigen und zu wahren, aber auch in Komplizenschaft mit den Klängen Georgia Koumarás kongenial zu interagieren und das ABC der Ausrufe spannend in Szene zu setzen. Ich hoffe, die Gedichte, die animierten Zeichnungen und die Musik verbinden sich auf eine Weise, die das Publikum genauso begeistert und berührt wie mich.

(Monika Nuber)