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Marcus Schmickler: SCHREBER SONGS (Don‘t Wake Up Daddy)

Kammermusik mit szenischen Elementen

»Schreber Songs« basiert auf der wahren Geschichte des Anwalts Daniel Paul Schreber (18421911). Der Sohn des bekannten Arztes und Gründers der Kleingarten-Bewegung Moritz Schreber verbrachte aufgrund von psychotischen Wahnvorstellungen viele Jahre seines Lebens in psychiatrischen Anstalten und wurde im Zuge dessen entmündigt. Mit seinen Memoiren Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, die er in der Anstalt verfasste und deren innere Logik im juristischen Sinne überzeugend war, erkämpfte er seine Mündigkeit zurück. Sein Fall wurde durch Sigmund Freud bekannt, sein Buch ist bis heute Gegenstand psychologischer Debatten.

 

Für Marcus Schmickler ist Schreber der Prototyp eines zeitgenössischen Überlebenskünstlers, dem es gelang, darzulegen, dass in seiner offenbar verrückten Welt erkennbar Vernunft, Logik und Konsistenz herrschen und man dieser Welt nicht ihre Mündigkeit absprechen kann, ohne der Gesellschaft  ihrerseits Struktur, Vernunft und Logik und damit die Mündigkeit abzusprechen.

 

Das Stück ist keine lineare Erzählung der biographischen Stationen Schrebers und auch keine Abbildung seiner Wahnvorstellungen. Der Fokus liegt vielmehr auf den Aspekten, die Schreber zu einem zeitgenössischen Thema machen. Unsere heutige Zeit ist geprägt von der Auflösung der traditionellen und patriarchalen Ordnung und zugleich vom Scheitern der Träume der Moderne, diese alte Ordnung durch eine rationale und aufgeklärte Neuschöpfung zu ersetzen. Der erste Höhepunkt dieser Auflösung wurde in Schrebers Denkwürdigkeiten eindrücklich dargelegt. Schreber erlebt diesen Zusammenbruch an einem historischen Wendepunkt auf unmittelbar persönliche Weise. Buchstäblich in ihm, seinem Körper und Geist spielt sich das Drama dieses Verlustes abder sich darin aber auch als ein Freiheitsgewinn offenbart und als Verwerfung starrer und patriarchaler Schemata. So begegnet er diesem Umbruch mit der schöpferischen Produktion einer eigenen Realität, die zwar keiner Tradition oder Normalität entspricht, aber doch immer wieder die Verbindung zu sich selbst und anderen Menschen ermöglicht.

 

Kongenialer Partner von Marcus Schmickler ist der Theater- und Filmregisseur Titus Selge. Er ergänzt das »Tableau- vivant«-artige Bühnengeschehen durch einen Film, der die musikalischen Reflexionen in Bildern kommentiert und zugleich den historischen Zusammenhang zur Geschichte Schrebers herstellt. Zudem gibt derauch ins Italienische übersetzteFilm die Texte des Melodrams wieder. Durch vorproduzierte Bühnen-Szenen und den Einsatz einer Live-Kamera verschränkt Titus Selge den Film mit dem Bühnengeschehen und ermöglicht ein eindringliches Gesamtkunstwerk.